kordsgeschichten

alexander kords schreibt geschichten.

sonnenblumen

mit dieser geschichte habe ich am wettbewerb stimmen gegen rechts (vormals worte gegen rechts) des verbands deutscher schriftsteller in ver.di teilgenommen.

Kurz nach Sonnenuntergang kam der Krieg zu uns. Unsere Feinde hatten Baseballschläger, wir waren wehrlos. Sie warfen Pflastersteine, wir beteten, dass sie nicht eines unserer Fenster treffen. Sie schleuderten Molotow-Cocktails, wir fürchteten um unser Leben. Der Krieg begann, und wir waren in unseren Wohnungen eingeschlossen. Zwei Tage lang sahen wir von unseren Fenstern aus zu, wie die Männer sich mit der Polizei prügelten und immer wieder das Haus angriffen. Autos brannten, Schüsse fielen, Rufe wurden laut. „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!“ hören wir bis nach oben. Anfangs war der Hauseingang neben unserem das Ziel der Gewalt. Einmal hörten wir lautes Geschrei in unserem Treppenhaus, das immer näher kam. Wir hörten Tritte und Schläge gegen Türen, doch ganz plötzlich war es vorbei. Ein paar Glatzköpfe hatten das Haus gestürmt, und wir sahen, wie sie von Uniformierten aus der Tür gezerrt wurden.

An den ersten zwei Tagen fand der Krieg zwischen den Jugendlichen und der Polizei statt. Es war ein ungleicher Kampf, da die Polizisten hoffnungslos in der Unterzahl waren. Aber wenigstens waren sie bewaffnet, im Gegensatz zu uns. Als am dritten Tag die Polizisten einfach so verschwanden, begann der Angriff auf unsere Tür. Ab diesem Zeitpunkt trauten wir uns nicht mehr zum Fenster, weil wir Angst hatten, von einem der großen Steine getroffen zu werden, die in unsere Richtung geworfen wurden. Das war das Schlimmste: nicht zu wissen, was passiert. Jeden Moment konnte eine brennende Glasflasche eine unserer Wohnungen in Brand setzen. Jederzeit konnten die Angreifer zu uns nach oben kommen und uns umbringen. Denn nur darum ging es ihnen. Die Kinder saßen stumm weinend in der Ecke und hielten sich die Ohren zu. Die Babys konnten gar nicht aufhören zu schreien, und die schwangeren Frauen versteckten sich in einem dunklen Abstellraum ohne Fenster.

Plötzlich beschlossen einige der Männer in ihrer Verzweiflung, nach unten vor die Tür zu gehen. Sie wollten lieber in den ungleichen Kampf einzutreten, als weiterhin die Ungewissheit zu ertragen. Gerade noch konnten wir anderen sie daran hindern, in ihren sicheren Tod zu laufen. Als wir die Wohnungstür hinter uns wieder schlossen, rochen wir es: Benzin und Rauch. Das Haus brannte. Wir mussten unbedingt da raus, wenn wir nicht qualvoll verbrennen oder ersticken wollten.

Die Notausgänge waren verschlossen. Eine Tür konnten wir aufbrechen, aber die Treppe dahinter führte nicht nach oben. Nur nach unten, ins Geschrei, zu den Baseballschlägern, in den Tod. Unser Treppenhaus hatte einen Zugang zum Dach, aber auch der war versperrt. Gleich zwei Schlösser hingen an der Gittertür. Ein paar von uns brachen eines der Schlösser auf und bogen die Gittertür so weit nach oben, wie sie konnten. Die Lebensgefahr verlieh ihnen unmenschliche Kräfte. Mühsam kletterten wir aufs Dach. Dort oben verstanden wir wieder, was der Chor vor dem Haus schrie, auch wenn wir es gar nicht hören wollten. “Wir kriegen euch alle!”, vielstimmig, laut und erschreckend nah. Keiner von uns schaute von der Dachkante nach unten. Nicht nur aus Angst, sondern auch deshalb, weil wir die Unmenschen nicht sehen wollten, die uns hierher gezwungen haben. Die uns aus unseren Wohnungen heraus und auf das Dach getrieben haben.

Wir versuchten, die Dachluken der anderen Treppenhäuser zu öffnen, dort, wo unsere deutschen Nachbarn wohnten. In der ersten unverschlossenen stiegen wir nach unten. Obwohl wir unter jeder Tür Licht brennen sahen, unter manchen sogar die Schatten der Menschen dahinter, öffnete uns niemand, als wir klingelten und klopften. Wir mussten es auf fünf Stockwerken probieren, bis uns eine Familie in ihre Wohnung ließ und die Polizei rief.

Die Polizisten hatten für uns ein Spalier vor dem Haus gebildet, um uns vor den Angreifern zu schützen. Wir gingen hindurch, geschützt, aber doch wehrlos, in so vieler Hinsicht Verlierer des Krieges, den wir nie wollten. Außerhalb der Mauer aus Uniformen schrien uns die Menschen an und beschimpften uns. Ihnen hat es nicht gereicht, dass wir beinahe gestorben sind, sie wollten uns verbrennen sehen. Mitten in einem deutschen Wohngebiet.

Anlässlich des 20. Jahrestages wurde im Fernsehen einen Bericht über die Nacht von damals gezeigt. Dort sah ich die Gesichter aus der Nähe, die Mordlust der jungen Männer, die Aggression der Alten. Aber auch die Belustigung der Hausfrauen, die den Tätern Beifall klatschten und sie anfeuerten. Ich sah, dass sie neben dem Schlachtfeld Bier in Imbissständen verkauften. Und ich hörte die Politiker, die in den Tagen danach die Schuld von sich wiesen und den Angriff verharmlosen wollten. Es gab ja schließlich damals keine Toten. Bei der Gedenkfeier wurde ein Baum vor dem Haus gepflanzt. Ein paar Tage später wurde er über Nacht abgesägt.

So oft habe ich in den letzten Jahren von damals geträumt. In meinen Träumen explodieren Feuerbälle vor dem Fenster. Und wenn sie das tun, sehen sie ein wenig aus wie Sonnenblumen.

nicht mein fleisch und blut

diese geschichte wurde im hEFt für literatur, stadt und alltag #30 im oktober 2012 veröffentlicht. online hier.

Als das Telefon klingelte, war er gerade auf der Terrasse. Sie saß auf der Couch im Wohnzimmer und las Zeitung. Beide hörten das Klingeln, alle Türen im Haus und nach draußen waren offen. Während er noch die Erde um die neu eingepflanzten Sprösslinge herum festklopfte, sich die Hände an den Hosenbeinen saubermachte und langsam ins Haus trottete, war sie längst aufgestanden und zum Telefon gelaufen. Noch bevor sie abhob, wusste sie, wer am anderen Ende war. Sie hatte zwar von der Anruferin seit Monaten nichts gehört, und es gab keine Anzeichen, dass sie sich gerade jetzt melden würde, aber sie war es tatsächlich. Es wurde nur ein Satz gesagt, dann fiel der Frau der Hörer aus der Hand. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, um das Schluchzen zu unterdrücken. Inzwischen stand ihr Mann hinter ihr und legte seine linke Hand auf ihre Schulter. Mit der anderen nahm er den Hörer ans Ohr und führte das Gespräch zu Ende. Dann legte er auf, wischte ihr eine Träne aus dem Gesicht und umarmte sie. Sie lächelte ihn an und erwiderte die Umarmung.

Lange standen sie nicht in der Küche, denn sie durften keine Zeit verlieren. Die Frau am Telefon sagte, dass sie sie im Krankenhaus erwarten würde. Man hätte endlich ein Kind gefunden, das dem Profil entspricht. Ein Junge, gerade erst geboren. Er fuhr das Auto, auch weil sie durch den Tränenschleier vor ihren Augen nicht viel sah. Sie redeten nicht während der Fahrt, jeder hing seinen Gedanken nach. Sie schwelgte in der Vorstellung, dass das Kind, das sie gleich kennenlernen würden, bald in dem Babybett schläft, das sie vor ein paar Wochen ausgesucht und gekauft hatte. Er hingegen empfand keine Freude. Er wünschte sich ein Kind, genauso wie sie, aber er wollte ein eigenes. Eines aus seinem Fleisch und Blut. Doch das war nicht möglich. Jahrelang hatten sie es probiert, dann ließen sich beide untersuchen. Kein Arzt konnte ein Problem feststellen, schwanger wurde sie trotzdem nicht. So langsam fing er an, an seiner Männlichkeit zu zweifeln. Sein Bruder hatte schon drei Kinder, und der war ein paar Jahre jünger als er. Warum konnte er noch nicht einmal ein einziges zeugen? Seine Eltern äußerten sich selbstverständlich nicht, aber als seine Frau und er über eine künstliche Befruchtung nachdachten, gaben ihnen seine Eltern Geld für den Eingriff, ohne dass sie sie darum baten. Und es war eine Menge Geld. Geld, das eine Verpflichtung bedeutete. Eine Verpflichtung zu einem Enkelkind für seine Eltern, eine Verpflichtung zu einem leiblichen Kind. Doch auch die künstliche Befruchtung war erfolglos. Er hatte sich bereits damit abgefunden, niemals Nachwuchs zu haben – bis seine Frau mit dieser seltsamen Idee infiziert wurde.

Sie hatte zufällig eine alte Schulkameradin getroffen, mit der sie seit Jahren keinen Kontakt hatte. Spontan gingen sie zusammen einen Kaffee trinken, und wie man eben so redet, wenn man sich nach Jahren wiedersieht, sprachen sie auch über Kinderwünsche. Dabei kam ein Thema auf den Tisch, über das das Paar bislang nicht nachdachte: Adoption. Sie war sofort Feuer und Flamme, sie wollte unbedingt ein Kind und hatte keine Lust auf weitere Versuche mit dem Reagenzglas. Als sie ihrem Mann von der Idee erzählte, teilte er ihre Euphorie nicht, zeigte sich sehr zurückhaltend, fast schon ablehnend. Er sagte ihr zwar zu, dass er sie während des gesamten Prozesses unterstützt, aber allein die Verwendung des Wortes ‘Unterstützung’ sprach Bände über seine Einstellung zum Thema. Er kam mit zum Jugendamt, um sich für das Adoptionsverfahren anzumelden, aber er stand nicht dahinter. Er sagte im Beratungsgespräch nur das Nötigste, sein einziger Wunsch war es, dass das Kind ein Junge wird. Je länger sie auf den erlösenden Anruf warteten, desto mehr sank ihr Enthusiasmus und desto mehr Hoffnung kam in ihm auf, dass sich die ganze Sache im Sand verlief. Und dann kam er doch, der entscheidende Anruf.

Die Frau vom Jugendamt wartete auf sie im Eingangsbereich des Krankenhauses. Sie hatten ein sehr gutes Verhältnis zu ihr, zumindest anfangs sahen sie sie mindestens einmal pro Monat. Sie wollten beweisen, dass sie gute Eltern abgeben würden, und aus der Zweckgemeinschaft wurde fast so etwas wie eine Freundschaft. Als jedoch mehr als ein Jahr lang nichts Positives zu vermelden war, kühlte das Verhältnis ab und beschränkte sich immer mehr auf gelegentliche Telefongespräche. Zuletzt hatten sie seit Monaten keinen Kontakt mehr, gesehen haben sie sich mehr als zwei Jahre lang nicht. Dennoch umarmten sich die beiden Frauen zur Begrüßung.

Auf dem Weg zur Geburtsstation gab sie ihnen in aller Kürze die wichtigsten Informationen. Die Mutter des Kleinen hatte schon sehr früh während der Schwangerschaft beschlossen, ihren Sohn zur Adoption freizugeben, sie wollte aber nicht sagen warum. Die Frau vom Jugendamt vermutete, dass der leibliche Vater des Kindes der Mutter Gewalt androhte, wenn sie das Kind behalten sollte. Die Ärzte würden gerade noch Untersuchungsergebnisse auswerten, und eigentlich hätte man die noch abwarten müssen, bevor man das adoptionswillige Paar kontaktiert. Aber die Frau vom Jugendamt wollte die frohe Nachricht so schnell wie möglich überbringen, auch weil sie wusste, wie lange das Paar schon auf ein Kind warten musste.

Dann standen sie in einem kleinen, fast leeren Raum vor einem Babybettchen mit durchsichtigen Wänden. Darin lag das Wesen, das so viele Wünsche und so viele Erwartungen auf einen Schlag erfüllen sollte. Nicht darauf achtend, dass ihr Mann unbeteiligt hinter ihr stand, wollte die Frau das Kind hochheben und an ihre Brust drücken, doch die Frau vom Jugendamt untersagte es ihr. Das Kind sei noch zu schwach von der Geburt. Der kleine Junge im sterilen Krankenhausbett konnte kaum die Augen öffnen, aber die Frau hatte den Eindruck, dass seine müden Augen heller wurden, als er sie ansah. Sie schaute zu dem kleinen Kerl da unten, und plötzlich wusste sie, wie sein Name lauten würde: Jonathan.

Plötzlich kam ein Arzt in den Raum geeilt, großgewachsen, der untere Saum seines weißen Kittels wehte fast schon klischeehaft hinter ihm her. Er blickte sich im Raum um, sah die Frau am Kinderbett, ihre Hand auf dem Kopf des Kindes im Bettchen, sah den Mann versteinert hinter ihr stehen, sah die andere Frau, die sanft lächelnd neben der Szenerie stand und auf das Kind blickte. Er griff nach dem Arm der lächelnden Frau und zog sie vom Paar weg in eine Ecke des Raumes. Dort redete er leise auf sie ein. Das Paar blickte sich verunsichert an, versuchte, zu verstehen, was dort, fünf Meter von ihnen entfernt, gesprochen wurde. Sie vernahmen einzelne Worte aus dem Mund des Arzt, geflüstert, aber doch schneidend scharf. Es ging um voreilige Kontaktaufnahme, Untersuchungsergebnisse, um Konsequenzen, berufliche wie persönliche. Die Frau stand stumm vor ihm, sagte kein Wort, wurde immer blasser. Als der Arzt in Richtung des Paars lief, blieb sie stehen, wo sie war, ihr Blick auf die Wand gerichtet, vor der eben noch ihr Gegenüber stand. Der Arzt erreichte das Paar und blickte erst den Mann, dann die Frau und dann das Kind im Bettchen an.

Mit den Wörter Hydrozephalus und Skoliose konnten sie nichts anfangen, erst mit den einfühlsamen Erklärungen des Arztes wurde ihnen klar, dass Jonathan niemals gesund sein würde. Der große Kopf war ihnen aufgefallen, aber sie dachten, dass das für ein Baby normal sei, und die schiefe Wirbelsäule war ohnehin mit bloßem Auge kaum zu erkennen. Nach den Erklärungen des Arztes brach die Frau in Tränen aus. Ihr Mann tröstete sie halbherzig, nahm sie aber nicht in den Arm. Der Arzt drückte sein Verständnis dafür aus, dass die Diagnose ihre Entscheidung bezüglich der Adoption negativ beeinflussen könnte, bat sie aber inständig, sich Zeit zu lassen. Ohnehin könne die Adoption erst acht Wochen nach der Geburt des Kindes rechtskräftig gemacht werden, und diese Bedenkzeit sollten sie auf jeden Fall nutzen. Er führte ihnen vor Augen, wie schwierig es sei, für ein behindertes Kind Adoptiveltern zu finden.

Auch auf der Rückfahrt sprach keiner der beiden ein Wort. Wieder fuhr er, wieder waren ihre Augen durch einen Tränenfilm getrübt. Ein paar Mal schaute sie zu ihm herüber, um herauszufinden, was er dachte, doch er starrte ausdruckslos auf die Straße. Als er vor der Haustür den Schlüssel aus der Tasche fischte, nutzte sie den kurzen Moment, um sich vor ihn zu stellen und ihm in die Augen zu schauen. Sie wollte nicht flehend aussehen, machte ihre Sache aber nicht besonders gut. Er widerstand ihrem Blick, sie senkte ihre Augen nach einiger Zeit. Während er sich umdrehte, um sich wieder auf der Terrasse seinen Pflanzen zu widmen, sagte er den folgenschweren Satz: “Das ist nicht mein Fleisch und Blut.” Sie sah ihm nach und setzte sich nach einiger Zeit auf die Couch. Dort nahm sie ihr Mobiltelefon aus der Tasche und schaute sich die Bilder an, die sie im Krankenhaus gemacht hatte. Bilder von ihrem Jonathan.