sonnenblumen
mit dieser geschichte habe ich am wettbewerb stimmen gegen rechts (vormals worte gegen rechts) des verbands deutscher schriftsteller in ver.di teilgenommen.
Kurz nach Sonnenuntergang kam der Krieg zu uns. Unsere Feinde hatten Baseballschläger, wir waren wehrlos. Sie warfen Pflastersteine, wir beteten, dass sie nicht eines unserer Fenster treffen. Sie schleuderten Molotow-Cocktails, wir fürchteten um unser Leben. Der Krieg begann, und wir waren in unseren Wohnungen eingeschlossen. Zwei Tage lang sahen wir von unseren Fenstern aus zu, wie die Männer sich mit der Polizei prügelten und immer wieder das Haus angriffen. Autos brannten, Schüsse fielen, Rufe wurden laut. „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!“ hören wir bis nach oben. Anfangs war der Hauseingang neben unserem das Ziel der Gewalt. Einmal hörten wir lautes Geschrei in unserem Treppenhaus, das immer näher kam. Wir hörten Tritte und Schläge gegen Türen, doch ganz plötzlich war es vorbei. Ein paar Glatzköpfe hatten das Haus gestürmt, und wir sahen, wie sie von Uniformierten aus der Tür gezerrt wurden.
An den ersten zwei Tagen fand der Krieg zwischen den Jugendlichen und der Polizei statt. Es war ein ungleicher Kampf, da die Polizisten hoffnungslos in der Unterzahl waren. Aber wenigstens waren sie bewaffnet, im Gegensatz zu uns. Als am dritten Tag die Polizisten einfach so verschwanden, begann der Angriff auf unsere Tür. Ab diesem Zeitpunkt trauten wir uns nicht mehr zum Fenster, weil wir Angst hatten, von einem der großen Steine getroffen zu werden, die in unsere Richtung geworfen wurden. Das war das Schlimmste: nicht zu wissen, was passiert. Jeden Moment konnte eine brennende Glasflasche eine unserer Wohnungen in Brand setzen. Jederzeit konnten die Angreifer zu uns nach oben kommen und uns umbringen. Denn nur darum ging es ihnen. Die Kinder saßen stumm weinend in der Ecke und hielten sich die Ohren zu. Die Babys konnten gar nicht aufhören zu schreien, und die schwangeren Frauen versteckten sich in einem dunklen Abstellraum ohne Fenster.
Plötzlich beschlossen einige der Männer in ihrer Verzweiflung, nach unten vor die Tür zu gehen. Sie wollten lieber in den ungleichen Kampf einzutreten, als weiterhin die Ungewissheit zu ertragen. Gerade noch konnten wir anderen sie daran hindern, in ihren sicheren Tod zu laufen. Als wir die Wohnungstür hinter uns wieder schlossen, rochen wir es: Benzin und Rauch. Das Haus brannte. Wir mussten unbedingt da raus, wenn wir nicht qualvoll verbrennen oder ersticken wollten.
Die Notausgänge waren verschlossen. Eine Tür konnten wir aufbrechen, aber die Treppe dahinter führte nicht nach oben. Nur nach unten, ins Geschrei, zu den Baseballschlägern, in den Tod. Unser Treppenhaus hatte einen Zugang zum Dach, aber auch der war versperrt. Gleich zwei Schlösser hingen an der Gittertür. Ein paar von uns brachen eines der Schlösser auf und bogen die Gittertür so weit nach oben, wie sie konnten. Die Lebensgefahr verlieh ihnen unmenschliche Kräfte. Mühsam kletterten wir aufs Dach. Dort oben verstanden wir wieder, was der Chor vor dem Haus schrie, auch wenn wir es gar nicht hören wollten. “Wir kriegen euch alle!”, vielstimmig, laut und erschreckend nah. Keiner von uns schaute von der Dachkante nach unten. Nicht nur aus Angst, sondern auch deshalb, weil wir die Unmenschen nicht sehen wollten, die uns hierher gezwungen haben. Die uns aus unseren Wohnungen heraus und auf das Dach getrieben haben.
Wir versuchten, die Dachluken der anderen Treppenhäuser zu öffnen, dort, wo unsere deutschen Nachbarn wohnten. In der ersten unverschlossenen stiegen wir nach unten. Obwohl wir unter jeder Tür Licht brennen sahen, unter manchen sogar die Schatten der Menschen dahinter, öffnete uns niemand, als wir klingelten und klopften. Wir mussten es auf fünf Stockwerken probieren, bis uns eine Familie in ihre Wohnung ließ und die Polizei rief.
Die Polizisten hatten für uns ein Spalier vor dem Haus gebildet, um uns vor den Angreifern zu schützen. Wir gingen hindurch, geschützt, aber doch wehrlos, in so vieler Hinsicht Verlierer des Krieges, den wir nie wollten. Außerhalb der Mauer aus Uniformen schrien uns die Menschen an und beschimpften uns. Ihnen hat es nicht gereicht, dass wir beinahe gestorben sind, sie wollten uns verbrennen sehen. Mitten in einem deutschen Wohngebiet.
Anlässlich des 20. Jahrestages wurde im Fernsehen einen Bericht über die Nacht von damals gezeigt. Dort sah ich die Gesichter aus der Nähe, die Mordlust der jungen Männer, die Aggression der Alten. Aber auch die Belustigung der Hausfrauen, die den Tätern Beifall klatschten und sie anfeuerten. Ich sah, dass sie neben dem Schlachtfeld Bier in Imbissständen verkauften. Und ich hörte die Politiker, die in den Tagen danach die Schuld von sich wiesen und den Angriff verharmlosen wollten. Es gab ja schließlich damals keine Toten. Bei der Gedenkfeier wurde ein Baum vor dem Haus gepflanzt. Ein paar Tage später wurde er über Nacht abgesägt.
So oft habe ich in den letzten Jahren von damals geträumt. In meinen Träumen explodieren Feuerbälle vor dem Fenster. Und wenn sie das tun, sehen sie ein wenig aus wie Sonnenblumen.